Alles nur eine Frage der Zeit? – Methodologische Überlegungen zu Zeit(druck) und Translation

Gerrit Bayer-Hohenwarter
Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz

The Journal of Specialised Translation 9 (2008), 108-131

https://doi.org/10.26034/cm.jostrans.2008.687

Creative Commons Attribution 4.0 International

ABSTRACT

Ausgehend von der didaktischen und berufspraktischen Relevanz von Zeitdruck wird das Wechselspiel zwischen verschiedenen Umfeldvariablen beschrieben, die das Zeitdruckempfinden beeinflussen und sich von daher auf Übersetzungsprozess und Übersetzungsprodukt auswirken. Vor dem Hintergrund des 'magischen Dreiecks' des Prozessmanagements mit seinen Eckpfeilern Qualität, Quantität und Ressourcen werden übersetzungsrelevante Analysedimensionen und Analyseparameter aus bestehenden Arbeiten erfasst, die den Facettenreichtum des Forschungsgebiets und die Komplexität der Anforderungen an Versuchsdesign und Methoden verdeutlichen. Ausgangspunkt für die methodischen Überlegungen ist die Frage, ob BerufsübersetzerInnen zeitdruckresistenter sind und ob der Umgang mit Zeitdruck lehr- und lernbar ist. Diverse Möglichkeiten zur Operationalisierung des Zeitdruck-Parameters werden dargelegt: (1) Spezifizierung von pauschalen Zeitlimits, (2) Erhebung des subjektiven Zeitdruckempfindens, (3) Erhebung individueller Zeitdruckbedingungen, (4) Operationalisierung in der Feldforschung und (5) indikatorenbasierte Operationalisierung. Diese werden um die Möglichkeit der physiologischen Objektivierung ergänzt. Zuletzt werden Möglichkeiten und Grenzen empirischer Zeitdruckforschung diskutiert.

KEYWORDS

Translation – Zeitdruck – Übersetzungsprozessforschung - Stressforschung – Operationalisierung – Versuchsdesign

Translation – time pressure – translation process research – stress research – operationalisation – experimental design

Zeitdruck und Zeitfaktor in der Berufspraxis

In der Berufspraxis wird die übersetzerische Tätigkeit in hohem Maße durch jene Ressource beeinflusst, von der es paradoxerweise zwar unendliche Mengen gibt, von der jedoch trotzdem immer zu wenig vorhanden ist: Zeit. Das Leben nach der Uhrzeit ist bekanntlich ein Konstrukt unserer modernen, westlichen Welt, hat aber ungeachtet seiner Kulturspezifik großen Einfluss auf die translatorische Berufspraxis.

Es ist zu erwarten, dass Zeitdruck den Berufsalltag von ÜbersetzerInnen durch immer kürzere Produktionszyklen immer weiter verschärfen wird, auch wenn rechnergestützte Werkzeuge von Routineaufgaben entlasten. Immerhin ist eine kurze 'time-to-market', also eine kurze Markteinführungszeit eines Produkts, ein sehr bedeutsamer Konkurrenzfaktor. Und immerhin ist die übersetzerische Arbeit naturgemäß am Ende der Produktionskette angesiedelt. In Abhängigkeit vom Übersetzungsauftrag sind Zeitverbrauch und Übersetzungsgeschwindigkeit schlussendlich ein wesentliches Maß für (1) die Expertise und Konkurrenzfähigkeit von ÜbersetzerInnen, (2) den Erfolg ihrer Tätigkeit im Einzelfall sowie (3) den Erfolg ihrer beruflichen Entwicklung in ihrer Gesamtheit. Auch ist Zeitdruck oft der Grund dafür, dass überhaupt ein Übersetzungsauftrag vergeben wird und nicht Laien translatorische Aufgaben selbst durchführen (vgl. dazu auch die Beobachtung Riskus 1998: 153).

Das Thema Zeitdruck beim Übersetzen hat somit auch didaktische Relevanz, da die angehenden ÜbersetzerInnen in ihrem eigenen Interesse und im Interesse ihrer künftigen AuftraggeberInnen ihre Arbeitszeit effizient nutzen und ihr Übersetzungstempo an das Markttempo anpassen lernen müssen (vgl. dazu auch Tirkkonen-Condit 1996: 256, Schmitt 1998a: 11). Das Spannungsfeld zwischen Zeit, Qualität und Ressourcen wird im Projektmanagement als 'magisches Dreieck' bezeichnet: Wird die Zeit knapp, so sind mehr Ressourcen (also im Falle von Übersetzungsprojekten z. B. mehr ÜbersetzerInnen, bessere technische Hilfsmittel, mehr Bezahlung) erforderlich, um gleich bleibende Qualität sicher zu stellen. Bei großer Zeit- und Ressourcenknappheit sind Qualitätseinbußen erwartbar. Die drei Eckpunkte Zeit, Qualität und Ressourcen stellen somit die Analysedimensionen dar, an die in weiterer Folge angeknüpft wird. Das magische Dreieck soll für die folgenden methodischen Überlegungen stets präsent sein.

Mentales Modell

Die eingehende Beschäftigung mit der translatorischen, aber auch physiologischen und psychologischen Dimension und Erkenntnissen weiterer benachbarter Disziplinen lässt das nachfolgende „mentale Modell" entstehen (Abbildung 1). Dabei handelt es sich um ein Überblicksmodell zu Zwecken der Verständnishilfe, jedoch ohne Anspruch auf absolute theoretische Validität und Vollständigkeit, da in dieser Arbeit Operationalisierungsfragen im Zentrum stehen. Die verschiedenen Farben haben in diesem Überblicksmodell folgende Bedeutungen: Die roten Felder beziehen sich auf die wesentlichen Prozesselemente der Überlegungen; die hellblauen Felder haben medizinische, die grünen intellektuelle, die orangen emotionale und die mittelblauen pragmatisch-organisatorische Inhalte.
Abbildung 1
Legende: UE = Übersetzung, Übersetzungs-; TM = Translation Memory, LZG = Langzeitgedächtnis

Abbildung 1: Überblick – Zeitdruck, Einflussfaktoren und kognitive Prozesse

Vom Kreis Zeitdruck ausgehend wird der Einfluss der Themenbereiche Expertise/Kompetenz/Wissen, Persönlichkeit, Arbeitsbedingungen und Wahrnehmung auf die Zeitdruckwahrnehmung skizziert. Die subjektive Wahrnehmung des Zeitdrucks ist eine elementare Gegebenheit, die mit dem Hormonhaushalt des Menschen einerseits und seiner Gefühlswelt und Motivation andererseits in Wechselwirkung steht. Ein gängiges Erklärungsmodell für Zeitdruck nach Lazarus (vgl. Lundberg 1993:41) ist die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Anforderungen und den zur Erfüllung dieser Anforderungen verfügbaren Ressourcen. Auch verschärft eine vom Individuum wahrgenommene geringe Kontrollierbarkeit der Situation die Zeitdruckwahrnehmung (vgl. z. B. Maule/Svenson 1993:21, Amabile 2002:5). Daher ist zu erwarten, dass sehr erfahrene ÜbersetzerInnen erst vergleichsweise spät oder in geringerem Ausmaß Zeitdruck wahrnehmen als ihre weniger erfahrenen KollegInnen. Bei schlechten Arbeitsbedingungen sowie geringem Selbstvertrauen ist eine geringere Einschätzung der Kontrollierbarkeit einer Situation und geringere Zeitdruckresistenz erwartbar. Positive Motivation kann das Zeitdruckempfinden potenziell verringern, und moderater Zeitdruck umgekehrt die Motivation erhöhen.
Ausgehend von diesen grundlegenden Wechselwirkungen ist eine Beeinflussung der kognitiven Prozesse denkbar, insbesondere der beim Übersetzen so zentralen Problemlösungs- und Entscheidungsprozesse. Beeinflusst werden könnten überdies Bereiche wie translatorische Kreativität, parallele Informationsverarbeitung, Abrufen von Wissensbeständen aus dem Langzeitgedächtnis und Entscheidungsregeln, was diese Bereiche zu potenziell interessanten Forschungsfeldern macht. Die fein gestrichelte rote Linie in Abbildung 1 markiert an dieser Stelle den Übergang von den im menschlichen Körper und Geist ablaufenden Prozessen hin zum sichtbareren menschlichen Verhalten und seinem Produkt, im konkreten Fall dem Zieltext. Unter Zeitdruck bedient sich der Mensch entsprechend psychologischer Erkenntnisse so genannter Coping-Strategien zur Bewältigung der Stresssituation. Auch umgekehrt ist eine Beeinflussung des emotionalen Zustands durch die Coping-Strategien oder ihren Erfolg denkbar (vgl. z. B. Lazarus 1986:407f). Diese für den translatorischen Kontext als affektive, translatorische und organisatorische kategorisierbaren Strategien [1] können je nach Intensität des empfundenen Zeitdrucks, der Persönlichkeit etc. mehr oder weniger konstruktiv bzw. erfolgreich sein und wiederum zu einem mehr oder weniger guten Translat führen.

Ergebnisse bisheriger Studien

Zu den translationsrelevanten Zeitdruckstudien zählen in erster Linie die beiden prozessorientierten Arbeiten von de Rooze 2003 und Jensen (Jensen 1999, Jensen 2000, Jensen/Jakobsen 2000; Jarvella/Jensen et al. 2002). Auch die Versuchsreihen von Hönig und Hansen, die in zahlreichen Publikationen dokumentiert wurden (Hönig 1998, Hansen/Hönig 2000, Hansen 2002a, Hansen 2002b, Hansen 2003, Hansen 2005), liefern eine Vielzahl interessanter Resultate, die die Auswirkungen von Zeitdruck mit den verschiedensten Faktoren in Zusammenhang bringen. Hier die wichtigsten Ergebnisse der genannten Studien:

Wertvolle Hinweise für das Design einer translationsrelevanten Zeitdruckstudie lassen sich auch aus bisher noch nicht genannten Arbeiten ableiten, bei denen Zeitfaktoren in irgendeiner Weise bedeutend sind. Da hier nicht im Detail und exhaustiv auf diese unzähligen Arbeiten eingegangen werden kann, wird nachfolgend ein weiteres Überblicksdiagramm (Abbildung 2) vorgestellt. Darin werden die zahlreichen in verschiedensten Publikationen verstreuten Aspekte den drei Eckpfeilern des magischen Dreiecks (1) Zeit, (2) Qualität und (3) Ressourcenzugeordnet, wobei Überlappungen unvermeidbar sind. Für die Zwecke dieser Überlegungen werden in dieser Arbeit unter „Ressourcen" mentale Wissensbestände und Entscheidungsgrundlagen verstanden. Hinterlegt ist dem Diagramm das magische Dreieck. Störquellen (vgl. Hansen 2005a) und individuelle Persönlichkeits-, Aufgaben- bzw. Prozessmerkmale wie etwa auch affektive Faktoren und Charakteristika konkreter Übersetzungsaufträge in einmaligen Übersetzungssituationen komplettieren das Diagramm. Die Betrachtung des magischen Dreiecks verdeutlicht, dass alle Dimensionen in engem Zusammenhang miteinander stehen und eine Beeinflussung von Qualität und Ressourcen Auswirkungen auf den Zeitfaktor hat. Diese zwei Analysedimensionen müssen daher unbedingt in die Überlegungen einbezogen werden.
Abbildung 2
Abbildung 2: Überblick – Analysedimensionen und zeit(druck)relevante Aspekte

Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die Quellen zu Forschungsarbeiten, in denen die einzelnen Aspekte vorkommen, und verdeutlicht den Reichtum an Einflussfaktoren, potenziellen Forschungsfeldern und Variablen in empirischen Studien.

 

 

ZEIT

Arbeitsgeschwindigkeit (+Textlänge)

Krings 2001:547,549

Prozeßphasen

Krings 1986, Bereiter/Scardamalia 1987, Tirkkonen-Condit 1990, Jarvella/Jensen et al. 2002, Breedveld 2002, Heiden 2005, Englund Dimitrova 2005

Arbeitsrhythmus

Breedveld 2002, Hansen 2005

Denk-/Kreativitätspausen, Spontaneität

Wallas 1926 zit. nach Burger 1993, Kußmaul 2000, Heiden 2005

Zeitverbrauch & Expertise & Qualität

Jääskeläinen 1996, Englund Dimitrova 2005, Bereiter/Scardamalia 1987:124, Krings 2001

Teamarbeit

Séguinot 2000, Krings 2001: 551

Textdurchläufe (im Zieltext)

Breedveld 2002, Englund Dimitrova 2005

Linearität / Iterativität / parallele Prozesse

Séguinot 2000

Aufschieben von Problemlösungen und Entscheidungen

Dancette 1997, Tirkkonen-Condit 2000, Séguinot 2000, Hansen 2002a, Englund Dimitrova 2005

Intensität kognitiver Prozesse, Konzentration

Maule 1999

Entscheidungen pro Zeiteinheit

Tirkkonen-Condit 1989, Jääskeläinen 1996, Jensen 2000, in Opitz 2004:670f beschriebene Studien

Zieltextmenge pro Zeiteinheit

Schmitt 1998a, b; Stumm-Schwager 2004, Krings 2001:549, Thomä 2003 mit weiteren Quellen

Anschläge pro Zeiteinheit

Jensen 2000

Routineaktivitäten mit Zeitsparpotenzial durch Übung

Risku 1998

QUALITÄT

Ver(schlimm)besserungen

Hansen 2005a

Fehlerkategorien

Folgefehler

Krings 1986, Jensen 2000, Jarvella/Jensen et al. 2001, Hansen 2005a
de Rooze 2003

Monitoring-Aktivitäten

Shreve/Diamond 1997, Jakobsen 2005

Aufmerksamkeitsmanagement, parallele Prozesse

Shreve/Diamond 1997, Hansen 2005b

Qualitätskonzept

Jääskeläinen 2000, Jarvella/Jensen et al. 2002, Englund Dimitrova 2005

Kreativität & Flow

Risku 1998, Kußmaul 2000, Hansen 2003

Revisionen

Jensen 2000, Breedveld 2002, Englund Dimitrova 2005

Qualitätsbeurteilung

Englund Dimitrova 2005, Hansen 2005a, Heiden 2005, de Rooze 2003

 

 

KOMPETENZ

Länge der Übersetzungseinheiten

Jakobsen 2003

Konkreta vs. Abstrakta

de Groot 1997

Dolmetschstrategien, Dolmetsch-erfahrung

de Groot 1997, Hönig 1998

Globale/top-down vs. bottom-up Prozesse

de Groot 1997, Séguinot 1997, Kußmaul 2005

Vertikale (komplexe) vs. Horizontale (Dekodierungs-)Prozesse

de Groot 1997

Effortful vs. effortless (automatic) processing

Shreve/Diamond 1997, Risku 1998

Knowledge Telling vs. Knowledge Transforming

Bereiter/Scardamalia 1987, Jensen 2000

Developmental hypothesis

Jääskeläinen 1996, 2002; Risku 1998

Routinemäßiges Problemlösen vs. Expertenstrategien

Risku 1998

ENTSCHEI-DUNGEN

Entscheidungsregeln (Minimax)

Bereiter/Scardamalia 1987, Krings 2001

Strategische Entscheidungen über investierten Aufwand /

Tirkkonen-Condit 1996, Pommer 2006

(Suche nach) Übersetzungsalternativen

Krings 2001

Emotionen, affektive Dimension

Jääskeläinen 1996, Laukkanen 1996, Hansen 2005a

Risikoverhalten

Künzli 2004

Fachübersetzen

Pommer 2006

Einsatz von Hilfsmitteln

Jääskeläinen 1996, Laukkanen 1996, Künzli 2004, Risku 1998, Hansen 2003

Normen, Ziele, Erwartungen

Dancette 1997, Jakobsen 2005

Übersetzungsalternativen, tentative Übersetzungsvorschläge

Dancette 1997, Kußmaul 2000, Jakobsen 2005

(Indikatoren für) Unsicherheit

Tirkkonen-Condit 2000, Pommer 2006

Zielanpassung, neue Zieldefinition

Heltai 1997, Krings 2001

Analogiebildung

Risku 1998

Ethische Aspekte (Ablehnen von Aufträgen, Aushandeln eines höheren Honorars)

Bühler 1993:101, Tirkkonen-Condit 2000:125

Tabelle 1: Überblick über die Quellen der zeit(druck)relevanten Aspekte

Nach diesem Überblick werden nun die wesentlichsten Forschungsergebnisse der einzelnen Analysedimensionen kurz dargelegt:
Mit Blick auf die Dimension Zeit ist bemerkenswert, dass Arbeitsgeschwindigkeit (Krings 2001) und Arbeitsrhythmen (Englund Dimitrova 2005, Breedveld 2003, Hansen 2005) individuell höchst unterschiedlich sind. Krings (2001) belegte einen Gewöhnungseffekt: die Arbeitsgeschwindigkeit steigt bei längeren Texten.

Besonders interessant in der Analysedimension 'Qualität' erscheint die individuell unterschiedliche Ausprägung von übersetzerischen Qualitätsmaßstäben, wie etwa die Gewichtung zwischen Qualität und Quantität (Jääskeläinen 2000) sowie der Einfluss des Rollenverständnis (Englund Dimitrova 2005: 123f) auf die zeitliche Performance von ÜbersetzerInnen. Die Lösungen dazu fallen, wie Tirkkonen-Condit (2000: 125) ausführt, meist pragmatisch aus und können in prozessorientierten Studien kaum erforscht werden: Haben ÜbersetzerInnen eine Vorstellung vom idealen Zieltext, können diese jedoch beispielsweise aus Zeit- oder Informationsmangel nicht umsetzen, so können sie ihr Ziel revidieren, es aufgeben oder einen Versuch zur Beeinflussung der Arbeitsbedingungen unternehmen (z. B. mehr Zeit oder mehr Mittel zur Informationsrecherche mit der AuftraggeberIn aushandeln).

Zielanpassung oder neue Zieldefinition sind übliche Stressreaktionen, wie sie in der Literatur zur Stressforschung beschrieben werden (vgl. z. B. Maule 1999: 276). Ein Beispiel dafür findet sich im Korpus von Krings (2001: 469) als im Einzelfall angewandte „Strategie der bewussten Suboptimalität" [2], die als translatorische Coping-Strategie bezeichnet werden könnte. Diese könnte auch durchgängig angewandt im Sinne einer „minimal translation", einer Übersetzung unter Einsatz von minimalem Aufwand, auftreten (vgl. Heltai 1997). Dies wäre m. E. sehr bedenklich, da dabei Suboptimalität im „besten" Fall zu einer schlechten Gewohnheit des Einzelnen jenseits einer bewussten strategischen Entscheidung, im schlechtesten zu einem generellen neuen suboptimalen Qualitätsmaßstab für eine gesamte Berufsgruppe würde.

Zur Analysedimension Ressourcen zählen die zwei großen Themenkomplexe Kompetenz und Entscheidungen. Unter Kompetenz seien die Faktoren angeborene Kompetenzen (z. B. bei Zweisprachigen), Talente, Wissensbestände, Erfahrungen (z. B. die institutionellen und kulturellen Erfahrungen wie bei Hansen/Hönig 2000), Expertise, Routine und Fähigkeiten (z. B. Merkfähigkeit) subsumiert – also das gesamte intellektuelle und physische Potenzial, auf das ÜbersetzerInnen bei ihrer Tätigkeit zurückgreifen können. Dazu würden im weiteren Sinne auch Merkmale wie physische Disposition und Persönlichkeit gehören.

Die Forschungsergebnisse zu Zusammenhängen zwischen Zeitverbrauch und Expertiseniveau sind divergent: Während Englund Dimitrova 2005 eine direkte Relation fest stellte, finden sich u. a. bei Jääskeläinen 1999, Krings 2001 und Jakobsen 2003 dem widersprechende Befunde und legen die Gültigkeit eines entwicklungsabhängigen Modells mit kurvenförmiger Relation nahe, der developmental hypothesis (Jääskeläinen 1996 et passim). Demnach gilt vereinfacht gesprochen, dass Laien schnell und schlecht übersetzen, während semiprofessionelle ÜbersetzerInnen langsam und mit hoher Problemsensibilität arbeiten. Bei ExpertInnen ist die Leistung abhängig vom Routinegrad der Aufgabe – bei Routineaufgaben arbeiten sie schnell und gut (vgl. auch Laukkanen 1996) und bei Nicht-Routinetexten ungefähr gleich schnell wie semiprofessionelle ÜbersetzerInnen. Dieses Modell steht mit dem entwicklungsorientierten Knowledge-Transforming-Modell (Bereiter/Scardamalia 1987) im Einklang, wonach ExpertInnen effizienter mit Wissen umgehen und es kreativ auf neue Problemstellungen anwenden können (=knowledge transforming), was ihnen einen Effizienzvorteil beschert (Bereiter und Scardamalia 1987, Jensen 1999). Nach den Regeln der developmental hypothesis ist zu erwarten, dass ÜbersetzerInnen mit sehr hohem Expertiseniveau bei Routineaufgaben erst spät in Zeitnot geraten, wohingegen sie sich bei Nicht-Routineaufgaben ebenso wie semiprofessionelle ÜbersetzerInnen aufgrund ihrer hohen Problemsensibilität schneller unter Zeitdruck fühlen.

Tirkkonen-Condit 1996 vertritt die Meinung, dass übersetzerische Kompetenz idealerweise die Fähigkeit umfasst, strategisch richtige Entscheidungen über den investierten Aufwand zu treffen und Übereinstimmung zwischen globalen Strategien und lokalen Entscheidungen zu erzielen, womit der zweite Themenkomplex der Analysedimension Ressourcen angesprochen ist: Entscheidungen.

Das Treffen von Entscheidungen erfordert einerseits Problembewusstsein, andererseits Entscheidungsgrundlagen. Die Entscheidungsprozessforschung ist eine eigene wissenschaftliche Subdisziplin mit zahlreichen Modellen, Theorien und empirischen Studien (vgl. Maule/Svenson 1993, Svenson/Maule 1993, Edland/Svenson 1993). In der Entscheidungsprozessforschung sind Entscheidungsregeln ein zentrales Thema. Die in Bezug auf den Zeitverbrauch wohl wesentlichste Entscheidung ist die, wie viel Zeit zum Generieren möglicher Zieltextvarianten investiert wird und wann die Suche abgebrochen wird (vgl. Krings 2001: 469). Das Generieren möglichst vieler Alternativlösungen wird in mehreren Arbeiten als professionelle und Erfolg versprechende Strategie identifiziert (vgl. z. B. Jakobsen 2005, Dancette 1997), auch wenn sie (kurzfristig) zeitaufwändig erscheinen mag. Jedenfalls ist das Dilemma zwischen Rechercheaufwand und Zeitdruck als typische Gegebenheit des Berufsalltags vermutlich bei Texten mit hohem fachlichen Spezialisierungsgrad am größten. Dabei sei beispielsweise auf die Ausführungen Pommers verwiesen, wonach die Rechtsübersetzung "weit in den Bereich der Rechtsvergleichung hinein[reicht] und […] in der Praxis kaum bei jeder Übersetzung in der erforderlichen Genauigkeit realisiert werden können [wird]." (Pommer 2006: 66). Damit in engem Zusammenhang steht der häufig thematisierte und zeitintensive Hilfsmittelgebrauch (Art der verwendeten Hilfsmittel, Häufigkeit und Art der Hilfsmittelverwendung, Zeitverbrauch beim Nachschlagen – vgl. z. B. Jääskeläinen 1996, Laukkanen 1996). Terminologierecherchen machen laut Schätzungen von Fachleuten [3] beim Fachübersetzen zwischen 40 % und 90 % des Übersetzungsaufwands aus und sind somit neben dem Einsatz von Translation-Memory-Systemen wohl der größte Ansatzpunkt für Zeiteinsparungen im übersetzerischen Berufsalltag. Risku verweist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr exzessiver Informationsrecherche, die zum Selbstzweck mutieren könne (Risku 1998: 171). Kaum thematisiert wurde bislang das Nachfragen (eine Ausnahme ist Künzli 2004), das in der Praxis hohen Stellenwert hat, jedoch in prozessorientierten Studien aufgrund der Laborsituation schwer auf ökologisch validem Niveau simuliert werden kann.

Krings postuliert, dass die Entscheidung, wie viel Zeit in das Generieren einer Zieltext-Lösung investiert wird, auf einer weitgehend intuitiven Kosten-Nutzen-Analyse beruht. Diese Entscheidung kann aus meiner Sicht durch das internalisierte Qualitätskonzept und mögliche Gewöhnungseffekte aber auch strategische Entscheidungen in Bezug auf den konkreten Übersetzungsauftrag im Sinne Tirkkonen-Condits (1996) beeinflusst werden. Wichtig erscheint überdies die Feststellung, dass sowohl affektive Faktoren (vgl. Jääskeläinen 1996, Laukkanen 1996, Hansen 2005) als auch das individuelle Risikoverhalten und die Risikobereitschaft sehr wahrscheinlich einen großen Einfluss auf die translatorische Entscheidungsfindung haben (vgl. dazu Künzli 2004). Mögliche Entscheidungsregeln, wie sie zwar in der Entscheidungsprozessforschung sehr wohl, in der Translationsprozessforschung meines Wissens jedoch kaum thematisiert werden (eine Ausnahme ist Jääskeläinen 1996, die sich mit den Konzepten optimiser vs. satisficer beschäftigt), sind beispielsweise das Ausschließen nach k.o.-Kriterien im Gegensatz zum Suchen nach der Lösung mit den meisten positiven Merkmalen (vgl. z. B. Maule 1999).

Sind ExpertInnen 'zeitdruckresistenter'?

Ausgehend von der berufspraktischen Relevanz von Zeitdruck und von den zuvor dargelegten Forschungsergebnissen werden abseits der Vielzahl genannter Einzelphänomene folgende Forschungsfragen für die Translationswissenschaft als besonders bedeutsam erachtet:

Einigkeit scheint darüber zu herrschen, dass ÜbersetzerInnen mit hohem Expertiseniveau Übersetzungsaufträge nicht grundsätzlich schneller bewältigen, da ihre Problemsensibilität sehr hoch ist. D. h. sie können Einzelprobleme möglicherweise schneller lösen, brauchen jedoch durch die große Anzahl erkannter Schwierigkeiten insgesamt länger. Dem widerspricht m. E. nicht, dass ihr selbst gewählter Zeitverbrauch für die Erfüllung eines Übersetzungsauftrags meist sehr wohl geringer sein mag, wie Englund Dimitrova (2005) feststellte. Jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass professionelle ÜbersetzerInnen beim Übersetzen in kürzerer Zeit bessere Resultate erbringen und strategisch angemessenere Entscheidungen im Sinne von Qualität vs. Quantität treffen können (z. B. Krings 2001: 279 oder auch de Rooze 92ff).

Aus der einschlägigen Literatur ist ableitbar, dass ein 'stresstoleranter' Mensch erst später 'Stress' wahrnimmt als seine weniger stresstoleranten Mitmenschen und/oder der Grad der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen Aufgabenstellung und verfügbaren Ressourcen vergleichsweise geringer ist. Auch gibt es Hinweise darauf, dass manche Menschen unter Zeitdruck sogar außerordentlich gute Leistungen erbringen und Zeitgefühl an sich ein Konstrukt ist, das in hohem Maße von der persönlichen Wahrnehmung abhängt (z. B. Runco 1999).

Die folgenden Forschungsergebnisse und Überlegungen stützen die These, wonach der erfolgreiche Umgang mit Zeitdruck expertiseabhängig ist und sich erst in der Berufspraxis in vollem Umfang entwickeln kann:

Ergänzen lassen sich diese Argumente noch durch eigene Beobachtungen mit psychologischem Schwerpunkt und Hypothesencharakter:

Didaktisch und berufspraktisch relevant erscheint gemäß dieser Überlegungen primär die Vermeidung von Zeitdruck durch entsprechend effiziente übersetzerische Strategien, da unter Zeitdruck möglicherweise relativ wenig Kapazitäten zur Anwendung von bewussten Strategien oder Verhaltensänderung verfügbar sind. Anzunehmen ist, dass es viele Möglichkeiten gibt, Übersetzungsunterricht so zu gestalten, dass Studierende die Gelegenheit haben, Zeitdruck vermeidende Strategien oder Kompetenzen (im weitesten Sinne) zu entwickeln. Dazu zählen m. E. die Stärkung von übersetzerischen Teilkompetenzen, Arbeiten gemäß des Prinzips der "situativen Kognition" [3] mit realen Übersetzungsaufträgen (vgl. Kiraly 2000) sowie die Sensibilisierung für das Markttempo.

Empirische Antworten auf viele dieser Fragen stehen jedoch aus. Grundsätzlich sind Studien im Rahmen der Übersetzungsprozessforschung, die die Übersetzungsprozesse von Laien mit jenen von ExpertInnen vergleichen, gut geeignet, um sich der Beantwortung solcher Fragen zu nähern. Auch können Zeitdruckexperimente möglicherweise ein geeignetes Mittel für Studierende sein, um ihre Wahrnehmung von Zeitdrucksituationen zu erproben. Für BerufspraktikerInnen könnten Zeitdruckstudien wertvolle Informationen liefern, die sie ihren AuftraggeberInnen als Antwort auf unrealistische Zeitvorgaben entgegenhalten können und im günstigsten Fall die Unwirtschaftlichkeit der Vergabe von Übersetzungsaufträgen unter zu hohem Zeitdruck belegen. Dafür sind jedoch detaillierte Überlegungen zum Forschungsdesign einer Zeitdruckstudie nötig.

Operationalisierung des Zeitdruck-Parameters

Unbestreitbar ist, dass die Güte einer Zeitdruck-Studie von der Operationalisierung des Zeitdruck-Parameters abhängig ist. Wie Amabile (2002: 1) ausführt, wird in der Zeitdruckforschung dabei meist von zwei Möglichkeiten der Operationalisierung ausgegangen: (1) Festlegung eines bestimmten Zeitlimits oder (2) Erhebung der subjektiven Zeitdruckwahrnehmung. Beide Möglichkeiten wurden in der Translationsprozessforschung erprobt:

De Rooze (2003) berücksichtigte Erkenntnisse aus der Stressforschung und Resultate vorangegangener Studien. Wie bei Hansen (2003, 2005) wurde eingangs die Schreibgeschwindigkeit der Versuchspersonen ermittelt. Zusätzlich zur Festlegung spezifischer Zeitlimits wurde das subjektive Zeitdruckempfinden der Versuchspersonen mittels eines retrospektiven Fragebogens erhoben. Die Zeitdruckbedingung wurde in Probeläufen getestet und verschärft, wodurch Schwierigkeiten mit einer zu schwachen Zeitdruckbedingung (vgl. Jensen/Jakobsen 2000:114) vermieden werden konnten.

Jääskeläinen (1996) und Englund Dimitrova wiederum führten keine Studien unter Zeitdruck durch, sondern maßen den selbst gewählten Zeitverbrauch der Versuchspersonen. Solche Studien sind m. E. nicht mit Zeitdruckstudien vergleichbar. Ohne explizite Erhebung des Zeitdruckempfindens in der Versuchssituation bergen sie Verfälschungspotenzial, da manche Personen sehr wohl durch Verpflichtungen oder Termine außerhalb der Laborsituation unter Zeitdruck gestanden sein könnten. Auch beeinflussen in solchen Situationen das Qualitätskonzept der UntersuchungsteilnehmerInnen und ihre Wahrnehmung der Labor-Übersetzungssituation den Versuchsausgang. Außerdem wäre zu berücksichtigen, dass Menschen, die über längere Zeit hinweg unter starkem Stress stehen, spezifische Verhaltensmuster entwickeln und sich permanent unter Druck fühlen, auch wenn unmittelbar keine Stressoren präsent sind (vgl. z. B. Lundberg 1993: 44). Das könnte zur Folge haben, dass sich im beschriebenen Versuchsdesign manche Versuchspersonen selbst unter Zeitdruck setzen, während andere gelassener arbeiten.

Alternativ zu den beiden zuvor genannten und bereits erprobten Versuchsdesigns wäre die Ermittlung individualisierter Zeitlimits denkbar, die beispielsweise auf einem individuellen durchschnittlichen Übersetzungstempo der Versuchspersonen basieren und diese Relation zwischen Wörtern pro Zeiteinheit um einen gewissen Prozentsatz reduzieren. Eine solche Festlegung individueller Zeitlimits wurde von Fischer (1992) in einer Untersuchung von Veränderungen des Prozedere zur Hypothesenbildung beim induktiven schlussfolgernden Denken vorgenommen. Diese individuellen Zeitlimits wurden von Fischer anhand repräsentativer Testaufgaben erhoben. Dies mag für die von ihr verwendeten standardisierbaren Aufgaben funktionieren, erscheint jedoch für Übersetzungen deutlich schwieriger.

Für Feldforschung im Berufsalltag mit realen Zeitdruck-Situationen gelten wiederum andere Gesetze. In diesem Zusammenhang ist Amabiles Studie (2002) beispielgebend. Sie operationalisierte den Zeitdruck-Parameter in ihrer longitudinalen Feldstudie mittels täglich am Ende des Arbeitstages erhobener subjektiver Bewertungen anhand einer 7-stufigen Antwortskala in einem elektronischen Tagebuch. Ergänzt wurden diese Daten durch 5-stufige Ratings zur Zeitdruckwahrnehmung sowie zum Grad der Arbeitsbelastung zu Beginn, in der Mitte und am Ende von Realprojekten. Zusätzlich wurden Erhebungen zu den geleisteten Arbeitsstunden pro Tag zur Prüfung und Interpretation dieser Ergebnisse herangezogen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens geht höhere subjektive Zeitdruckwahrnehmung mit einem höheren täglichen Arbeitspensum einher. Zweitens sollte ausgeschlossen werden, dass die Zeitdruckwahrnehmung daraus resultierte, dass die UntersuchungsteilnehmerInnen einen kürzeren Arbeitstag kompensieren wollten. Amabile hält es dabei für notwendig, auch das "tatsächliche" Stressniveau und individuelle Präferenzen für das Maß an erlebtem Zeitdruck zu berücksichtigen (Amabile 2002: 17). Auch zitiert sie Quellen, wonach es zwar sehr wohl Beziehungen zwischen wahrgenommenem Zeitdruck und experimentell vorgegebenen Zeitlimits gibt, künftige Forschungsarbeit solle den Zeitdruckfaktor ihrer Meinung nach jedoch zusätzlich nach "objektiven" Parametern operationalisieren. Wesentlich bei der Analyse von realen Übersetzungsprozessen sind somit Faktoren wie etwa große Unterschiede in den translatorischen Aufgabenstellungen (z. B. Re-Writing versus dokumentarische Übersetzung), unterschiedliche Textlängen (Projekte mit mehreren hunderten Seiten versus Einzelseiten), Teamübersetzung versus Einzelübersetzung, Möglichkeiten zur Recherche und Anwendung von Translation-Memory-Systemen, die Qualität der Ausgangstexte, Machtgefälle zwischen AuftraggeberInnen und ÜbersetzerInnen, die kommunikative Situation bei der Auftragsspezifikation, die Entlohnung der ÜbersetzerInnen u.v.m.

Eine zusätzliche Objektivierung beim Einsatz einer der genannten Methoden könnte durch indikatorenbasiertes Arbeiten erzielt werden: In der Literatur werden beispielsweise häufig Beschleunigung, Informationsfilterung und bewusste Informationsselektion als erste Folgen von Zeitdruck genannt (Svenson/Maule 1993), die somit als Indikatoren fungieren könnten. Im Übersetzungskontext wurden unter Zeitdruck dementsprechend höhere Tippgeschwindigkeiten und Auslassungen festgestellt. Auch häufige Blicke auf die (PC-)Uhr, aus Mimik und Gestik ableitbare Stressreaktionen, panikartige und ziellose Informationsrecherchen sowie explizite oder implizite Verbalisierungen von Zeitnot in Protokollen Lauten Denkens können möglicherweise als Indikatoren für Zeitdruckgefühle bei Versuchspersonen herangezogen werden.

Bei all diesen Operationalisierungsmöglichkeiten ist jedoch zu bedenken, dass moderater Zeitdruck unter günstigen Bedingungen, zu denen möglicherweise Persönlichkeits-, Motivations- und Umfeldfaktoren zählen, eine erhöhte Aufgabenkonzentration und folglich Effizienzsteigerung und sogar auch Kreativitätssteigerung bewirkt (vgl. dazu auch Maule 1999: 274, Amabile 2002: 19, Baer/Oldham 2006). Für translatorische Aufgaben ist daher erwartbar, dass die Erfüllung weniger herausfordernder Teilaufgaben durch moderaten Zeitdruck tendenziell begünstigt wird. Dies könnte die Erklärung für Ergebnisse von z. B. de Rooze (2003: 78) sein, wonach in rund 11% der Fälle Versuchspersonen unter Zeitdruck bessere Ergebnisse lieferten. Eine 3-stufige Operationalisierung nach geringem, moderatem und hohem Zeitdruck erscheint somit sehr wichtig. Dadurch wird auch die Erarbeitung des Versuchsablaufs bedeutsam, d. h. wie viele Texte in welcher Reihenfolge welcher/n Versuchsperson/en vorgelegt werden, wobei eine Kontrollgruppe und funktionslose, nicht zur Auswertung bestimmte kleinere Übersetzungsaufgaben zur Verschleierung des Versuchsablaufs vermutlich optimal wären.

Physiologische Objektivierung von Zeitdruck

Befragungen aller Art, wie auch zur subjektiven Stresswahrnehmung, bergen die Gefahr von Verzerrungen, beispielsweise durch Antworttendenzen, die sich an der sozialen Erwünschtheit orientieren (vgl. Kromrey 1998).
Die physiologische Objektivierung von Zeitdruck zielt in Ergänzung zu den genannten Methoden und zur Erhebung der subjektiven Stresswahrnehmung darauf ab, den Status und die physiologischen Auswirkungen eines Stresshormons oder mehrerer Stresshormone im menschlichen Körper zu analysieren. Diese Vorgangsweise erlaubt, ergänzend zur Zeitdruckbedingung und zur subjektiven Stresswahrnehmung vergleichbare Schlüsse aus Zeitdruckversuchen zu ziehen, denn:

Eine Möglichkeit zur physiologischen Objektivierung von Stress sind Speicheltests, die die Menge des Stresshormons Cortisol messen und in der Psychologie aufgrund ihres nicht-invasiven Charakters, geringer Kosten und einfacher Handhabung beliebt sind. Diese Methode wurde in der Dolmetschforschung auch bereits von Moser-Mercer eingesetzt. Sie ist jedoch laut Meinung eines befragten Stressforschers und Endokrinologen, Prof. Dr. Sepp Porta [4] für die genannten Zwecke wenig geeignet. Faktoren wie etwa die genetische Prädisposition, das Geschlecht, Nikotinkonsum, Krankheiten, Schwangerschaft, Hormoneinnahmen, Tageszeit und Biorhythmus beeinflussen das Cortisolniveau im Speichel (vgl. z. B. Kirschbaum / Hellhammer 1989, 1994).

Laut Auskunft des befragten Endokrinologen wäre eine Blutanalyse zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Experiments ideal, da man durch die in dieser Probe enthaltenen Blutgase, Puffer, Elektrolyte etc. Auskunft über den Status, das Zusammenspiel und die Effekte mehrerer Stresshormone erhalten kann. Dies erlaubt Rückschlüsse auf kurzfristig und langfristig wirkende Stressoren. Denn es können während einer Versuchssituation auch eine Reihe anderer Stressoren auf die Versuchsperson einwirken: Lärm, Müdigkeit, persönlichkeitsbedingte Ängstlichkeit, Erfolgsdruck, etc. Durch das komplexere Analyseverfahren mittels Blutprobe können 'Stressprofile' erstellt und sogar nützliche medizinische Ratschläge abgeleitet werden.

Diese aus endokrinologischer Sicht optimale Methode hat jedoch gravierende praktisch-organisatorische Nachteile:

Zu beachten ist aus endokrinologischer Perspektive ebenfalls, dass ein unmittelbares Aufeinanderfolgen von ÜoZ und ÜmZ (wie etwa bei Jensen 1999, Hansen 2005) im Versuchsablauf zu vermeiden ist, da der Stresspegel nachweislich auch dann noch eine gewisse Zeit lang hoch bleibt, wenn der Stressor nicht mehr präsent ist (vgl. Gespräch mit Prof. Sepp Porta und auch Amabile 2002: 11). Aus demselben Grund wäre genau zu klären, welche Informationen den Versuchspersonen im Vorfeld über das Ziel und den Ablauf der verschiedenen Versuchsreihen gegeben werden, unter anderem auch, um Leistungsdruck zu mindern, ohne die Ernsthaftigkeit der Aufgabenbearbeitung zu gefährden.

Grenzen von Zeitdruckstudien

Mit Zeitdruckstudien begeben sich nicht nur ÜbersetzungsprozessforscherInnen auf glattes Eis. Bereits die Entscheidung für die Art der Operationalisierung von Zeitdruck ist, wie zuvor geschildert, eine Herausforderung. Der idealerweise 3-stufig operationalisierte Zeitdruck-Parameter sollte zudem auch die einzige Variable in einem idealen validen Versuchsdesign darstellen. Dies erfordert, dass streng genommen eine Unzahl von Faktoren konstant gehalten werden müssten, z. B. das Profil der Versuchspersonen (Kompetenz, Erfahrung, Expertise, Vorwissen), die Versuchstexte (Länge, Schwierigkeitsgrad, Fachgebiet, Kreativitätspotenzial, Übersetzungsauftrag, Zielgruppe, Publikationsmedium, subjektiv wahrgenommener Schwierigkeitsgrad und Grad der Routinemäßigkeit), verschiedene Faktoren, die die Zeitwahrnehmung beeinflussen (z. B. externe Hinweise auf die Uhrzeit, vgl. Zakay 1993: 67) u.v.m. Wird dabei auch noch möglichst große ökologische Validität angestrebt, so wird klar, dass nur eine Approximation an ein ideales Versuchsdesign möglich ist. Auch Maule (1999), ein prominenter Vertreter der Stressforschung, äußert Zweifel an der Definition und Operationalisierbarkeit von Zeitdruck; Maule / Svenson (1993: 21) halten die Kontrolle der unabhängigen Variablen in Zeitdruckstudien für faktisch unmöglich und verweisen auf sehr bescheidene Forschungsgrundlagen zu diesem Thema.

Risku warnt schlussendlich vor deterministischen und reduktionistischen Erklärungen, "die eine Übereinstimmung oder 'Wesenseinheit' zwischen dem Wahrgenommenen und der Wahrnehmung bzw. der Reaktion annehmen" (1998: 29), was gleichermaßen für den wahrgenommenen Zeitdruck und die "Reaktion" darauf in Form eines Translats gelten kann. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die spezifische Ausprägung eines Translats in Wahrheit andere (Haupt-)Ursachen als die einer unterschiedlichen Zeitdruckbedingung hat. Ein Blick in Richtung Komplexitätstheorie zeigt, dass auch Translation als nicht-lineares, dynamisches und komplexes System angesehen werden kann, das durch einen traditionellen empirischen Ansatz nicht zufrieden stellend erforscht werden kann: Kleine quantitative Veränderungen in einer Ausgangsbedingung können starke Auswirkungen mit exponentieller Ausprägung auf die Übersetzung haben (Longa 2004: 220). Solche Mechanismen komplexer Systeme können möglicherweise begründen, warum viele Forschungsergebnisse im Bereich der Zeitdruckforschung (z. B. Burger 1993, Amabile 2002, Svenson/Maule 1993 mit vielen weiteren Quellen) und vielleicht auch in der Translationsprozessforschung divergieren. So gesehen kann streng genommen keine Zeitdruckstudie, so rigide ihr Versuchsdesign auch ist, Anspruch auf absolute Validität erheben. Die Abkehr vom Ideal der Objektivierbarkeit (vgl. z. B. auch Stefanink/Balacescu 2003) und Erkenntnisse aus der Komplexitätstheorie (Klein 2004, Longa 2004) sollen jedoch den Wert solcher empirischer Studien zum Zwecke einer größtmöglichen Näherung meines Erachtens nicht grundsätzlich in Frage stellen dürfen: Eine bestmögliche Identifizierung aller Variablen und der Versuch ihrer Kontrolle erscheint nach wie vor eine wesentliche Grundlage progressiver empirischer Forschungsarbeit. Ein Ansatzpunkt für die Untersuchung solcher komplexer Systeme ist das Aufspüren von übergeordneten Mustern (vgl. Longa 2004: 205). Beispielsweise erscheint es interessant, nach Gemeinsamkeiten hinsichtlich jener Versuchspersonen zu suchen, die in Zeitdrucksituationen überdurchschnittlich schlecht oder überdurchschnittlich gut abschneiden. Dafür kämen eventuell Faktoren wie Motivation, Rollenverständnis und Selbstwertgefühl in Frage. Solche übergeordneten Muster auf der Persönlichkeitsebene können möglicherweise das scheinbare 'Chaos' bezüglich der Relation zwischen Zeitlimit und Qualität des Translats erklären. So erscheint es reizvoll, die zahlreichen Ergebnisse bestehender Studien zu kombinieren, unter einem einheitlichen didaktischen Blickwinkel zu betrachten und systematisch unter Einsatz von Methodenpluralismus auf derartige rekurrente Muster hin zu analysieren, die Aufschluss über die spezifische Rolle von Zeitdruck im Gesamtsystem geben.

Allerdings ergibt sich bei einem Versuchsdesign, das die interdisziplinären Ergebnisse und das Prinzip der ökologischen Validität berücksichtigt, das Hauptproblem der praktischen Durchführbarkeit. Insbesondere ist das Anforderungsprofil an die Versuchspersonen sehr hoch. Dazu kommt das bekannte Dilemma zwischen Repräsentativität und Auswertbarkeit großer Datenmengen, wie es für die Übersetzungsprozessforschung aktuell typisch ist. Denn selbstverständlich ist auch wissenschaftliches Arbeiten im Regelfall den Zwängen des magischen Dreiecks aus dem Projektmanagement unterworfen und von pragmatischen Umfeldfaktoren abhängig.[5]

[1] so bezeichnet von Prof. Erich Prunč in einer Lehrveranstaltung vor einigen Jahren
[2] Lt. persönlichem Gespräch mit Dr. Gabriele Sauberer von Termnet
[3] auch „situated cognition", Forschungsansatz, der den Konnektionismus ablöste und dessen Wesen mit Risku darin besteht, dass intelligentes Handeln als „situatives Handeln in einem komplexen physischen Umfeld und in einer sozialen Situation" gesehen wird (Risku 2004:72)
[4] Lt. persönlichem Gespräch vom 12.5.2006 mit ao. Univ.-Prof. Dr. Sepp Porta, Dozent für experimentelle Endokrinologie am Institut für Pathphysiologie der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des Insituts für angewandte Stress-Forschung in Bad Radkersburg
[5] Dank an den unbekannten Juror / die unbekannte Jurorin sowie an Sepp Porta, Susanne Göpferich, Don Kiraly, Carmen Heine und die TeilnehmerInnen an diversen Lehrveranstaltungen am Institut für Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz für wertvolle Hinweise, Inspiration und Motivation.

Bibliographie

Gerrit Bayer-Hohenwarter absolvierte die Übersetzer- und Dolmetscherausbildung am Institut für Angewandte Translationswissenschaft in Graz. Danach war sie sechs Jahre lang als in-House-Übersetzerin und Dolmetscherin sowie Team- und Abteilungsleiterin in einem Unternehmen für Lagerlogistik und Automation tätig, wo sie u.a. für die Einführung eines Translation-Memory-Systems, die Konzipierung von Abteilungsworkflows, Style-Guide-Erstellung, Qualitätssicherung und Management von Übersetzungsprojekten zuständig war. Aktuell unterrichtet sie am Institut für Angewandte Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz und arbeitet an ihrer Dissertation zur Entwicklung translatorischer Kreativität und translatorischem Rollenverständnis.
Email: gerrit.bayer-hohenwarter@uni-graz.at